Zwei Wochen lang gehörten die Wörter: Sarg, Beerdigung, Trauergäste und Aufbahrung, zu meiner Alltagssprache. Mein Bruder und ich hielten im Garten stehend inne und fühlten uns, ob unserer plötzlichen Bestattungsexpertise, wie in einem Film. Hatten wir den Text wirklich gut genug gelernt?
Am Beginn dieser zwei Wochen steht ein großer Verlust. Sehr plötzlich. Im Garten. Hoch oben im Norden Deutschlands. Vor der Nachricht über diesen Verlust liege ich in Wien beim Shiatsu. Sitze anschließend in wohliger und warmer Entspannung auf einer Parkbank in der Sonne, mit einem cremigen Milchkaffee in der linken Hand. In der rechten Hand ein triefendes Pastrami-Sandwich, das bereits Flecken auf meinem Pullover hinterlassen hat.
Nie wieder möchte ich so ein Sandwich essen. Zu hoch ist das Risiko, dass es nach der Nachricht schmecken könnte, die mich nur zehn Minuten später ereilte. Die warme und feste Stimme meines kleinen Bruders im Ohr. 1000 km voneinander entfernt. Er in jenem Garten stehend, ich auf einer weiteren Parkbank vor der Schule meines Sohnes. Tränenüberströmt sitze ich am ersten Frühlingstag in Wien auf dieser Bank. Mein Vater ist tot. Am frühen Morgen diesen Tages gestorben. Ganz plötzlich. Um mich herum spielende Kinder und telefonierende Mütter. Die Zeit steht still.
Meine Verwirrung an diesem ersten Tag ist groß. Ich bin endlos dankbar für den Spontanbesuch meines Sohnes, die dunkle Tafel Meersalz-Schokolade von meiner Tochter, die Telefonate mit vertrauten Menschen. Eine Freundin kommt einige Stunden später zu mir und wir verbringen den ganzen Abend zusammen. Gehen schließlich zum Italiener um die Ecke, teilen uns eine Pizza und stoßen bei einem Glas Rotwein auf meinen Vater an. Alles scheint so unwirklich. So weit weg und doch ganz nah.
Am nächsten Tag kommt meine längste Freundin aus Süddeutschland nach Wien und bleibt für eine Nacht. Ich bin so dankbar, dass sie einfach kommt. Ganz schnell und selbstverständlich entscheidet sie bei mir sein zu wollen. Wir sitzen viele Stunden auf einem großen belebten Platz. Trinken Kaffee und reden. Die Sonne scheint so kraftvoll und wärmend, wie nie zuvor. Wir reden und weinen. Wir reden und lachen. Über früher und über jetzt. Und über morgen. Zwischendurch vergesse ich, was passiert ist. Es ist ein Gefühl, als hätte ich meinen Vater irgendwo liegenlassen, vergessen ihn mitzunehmen. Dieses Gefühl taucht an diesem Tag wiederholt auf – jedes Mal, wenn ich zurückkomme in die Gegenwart und mir der Verlust bewusst wird.
Ich weiß sehr schnell, dass ich abreisen muss. Ich muss in den Garten, ich muss zu meiner Mutter. Ich muss sie dringend in den Arm nehmen. Ich packe meinen Koffer, richte die Wohnung her und steige frühmorgens in den Zug. Keine Ahnung, wann ich zurück sein werde. Ich reise viele Stunden von Wien nach Hamburg. Am Abend stehe ich im Garten.
Schließlich stehe ich über zwei Wochen hinweg jeden Tag im Garten. Manchmal frühmorgens, um die Hühner und die Hündin zu füttern oder abends, um den Hühnerstall zu schließen. Oder am Nachmittag, um über die Blumen zu streichen, durch den Garten zu wandeln, um den sich mein Vater die letzten Jahre so intensiv gekümmert hat. Ich lege Blumen an seinen letzten Platz, ich verweile dort. Manchmal die Hündin an meiner Seite. Ich erkläre ihr alles. Und ein bisschen erkläre ich es auch mir. Genau an dieser Stelle ist er ganz nah. „Ach Daddy“, flüstere ich frühmorgens, genau eine Woche, nachdem sein Leben hier ein Ende fand.
Diese zwei Wochen sind heftig. Sie sind intensiv und von unablässiger Organisation, von Telefongeklingel und schlechtem Schlaf gezeichnet. Doch diese zwei Wochen sind auch wunderschön. Spaziergänge im Wald mit der Hündin, tägliche Fahrten mit dem heiligen Auto meines Vaters, nahe Gespräche mit meiner Hamburger Familie. Soviele Menschen, die jetzt da sind und Hilfe anbieten. Jeden Morgen koche ich mir einen Chai, sitze mit meiner Mutter am Fenster mit Blick in den Garten, sehe die Vögel durch die Wiese hüpfen. Ich laufe in den großen Schuhen meines Vaters im Garten herum, ich wandle in seinen Spuren und fühle mich ihm sehr nah. Ich entdecke seine Ecken, zu denen ich vorher keinen Zutritt hatte. Ich benutze sein Duschgel und rieche an seinem Aftershave. Ich bin so voll mit Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Immer wieder versuche ich das ganze, große Bild zu sehen und in mir zu halten: Die große Ambivalenz, die offenen Fragen, die ungestillte Sehnsucht, die große Liebe, der tiefe Schmerz und gleichzeitig der stille Friede in mir.
Es ist ein großer Verlust und gleichzeitig ein blühender Garten. Im Garten werde ich ihn finden.
♥️
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Liebe Vivian,
herzlichen Dank für deine sehr persönlichen Zeilen!
Ich kann gut nachvollziehen wie es dir geht und möchte dir auf diesem Wege meine aufrichtige Anteilnahme aussprechen!
Viel Kraft, Zuversicht und alles Liebe!
Birgit
Liebe Birgit, es tut immer gut zu hören nicht alleine damit zu sein. Am Ende verbindet es ja uns alle. Danke Dir!
Danke dir liebe Vivian für deine mich tief berührenden Zeilen!
Eine große tiefe und lange Umarmung von mir! <3 Anja
Danke, liebe Anja. I can feel it!
Estut mir so leid. Das erklärt wo dein Strahlen geblieben ist.
Ich wünsche dir viel Kraft und jede Menge schöne Erinnerungen.
Alles Liebe Ingrid
Hallo Vivienne !wir kennen uns nicht ,ich habe deine Eltern gekannt weil sie beide oft bei uns im hofladen einkaufen waren,es war immer schön wenn sie kamen ,deinem Vater fiel gerne ein flotter Spruch ein ,zum schmunzeln ,was mir auch oft auffiel war der liebevoll Umgang mit deiner Mama 🍃es ist traurig dieser plötzliche Tod und ich wünsche vor allem auch deiner Mama viel Kraft um mit ihrem neuen Lebensabschnitt zurecht zukommen 🍃🌷herzliche Grüße aus der Nordheide Petra
Liebe Petra, oh, das ist sehr schön. Ja, sein großer Humor und die endlos vielen flotten Sprüche – die bleiben auch. Danke für Deine schönen Eindrücke, das freut mich sehr! Mit lieben Grüßen in den Norden aus Wien, Vivian
Danke, liebe Ingrid. Das mit dem Strahlen wird schon wieder. Und außerdem ist es wohltuend das Strahlen von Euch anderen im Moment aufzunehmen. Alles Liebe und bis ganz bald wieder!
Liebe Vivian
Die Nachricht über den Tod von Frank hat meine Familie und mich sehr berührt und erschüttert 🥺
Deine eigenen Worte darüber nun hier zu lesen berühren und gehen zu Herzen!
Wie gut- aber auch so unendlich lange her- sind unsere Besuche bei euch im Norden als eure bei uns im Süden in meinem Gedächtnis!
Wir haben ihn alle sehr gemocht, über seinen Humor unendlich viel gelacht und geschmunzelt und fühlen mit euch allen!
Viele Grüße und weiterhin viel Kraft
Cornelia
Liebe Cornelia, wie schön, dass Du hier auftauchst. Danke für Deine warmen Zeilen! Ja, sein Humor. Der bleibt definitiv! 🙂 Alles Gute von Vivian