An einem Frühlingsmorgen schenkt mir eine Tasse Chai zum allerersten Mal dieses Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit. Das liegt bereits 20 Jahre zurück! Ich habe mich damals von meinem Freund getrennt und bin blitzschnell aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Mitten im Schreiben meiner Examensarbeit und der Vorbereitung auf eine Aufnahmeprüfung in Wien:

Alles ist durcheinander. Und alles tut weh. In mir. In meinem Herzen. In meinem Kopf. In meinem Körper. Meine Gedanken kreisen und kreisen und kreisen. Sie wollen nicht zur Ruhe kommen. Sie können nicht mehr zur Ruhe kommen. Tag und Nacht kreist es in mir. Trotz neu entdecktem Yoga, komme ich nicht mehr zur Ruhe. In mir nur Leere und Angst. Einen Menschen, den ich sehr liebte, habe ich nach mehreren gemeinsamen, schönen Jahren verlassen. Aus dem Gefühl heraus nicht gehört zu werden. Keine Resonanz zu finden. Gleichzeitig ist da diese unglaublich zarte, innige Liebe zwischen uns. Eine starke Verbindung. Nun bin ich gegangen. Aus einem tiefen Impuls heraus. So nicht leben zu können. So nicht leben zu wollen. Doch plötzlich sitze ich im Zweitzimmer meiner Freundin und frage mich ohne Unterlass, warum ich das nur gemacht habe. Warum bin ich gegangen? Und wie soll es nun weitergehen? War das richtig? Und was mache ich nun mit diesem riesigen Schmerz in mir? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr.

Dann der Chai in meiner Hand. Von meiner Freundin am Morgen gekocht, in deren Hauswohngemeinschaft ich für einen Monat gezogen bin. Sie hat dort zwei kleine Zimmer und lässt mich für diese Zeit in ihrem zweiten Zimmer wohnen. Und meine Freundin ist für mich da. Ja, Tag und Nacht. Denn in der Nacht ist es die ersten Tage am schlimmsten. Keine Ruhe. Die Stille ein lauernder Mörder. Mein Herz ist außer sich. Da schlüpfe ich in ihr Zimmer und sie tröstet mich.

Der Chai am folgenden Morgen ist warm. Schmeckt nach Ingwer, schwarzem Tee und Süße. Er ist mein Anker am Tag. Einige Wochen lang. Und von Tag zu Tag geht es mir besser und ich finde wieder Boden unter meinen Füßen. Meine Freundin hat bereits als junge Frau viel Zeit in Indien verbracht. Sie hat auch schon ewig lange vor dem großen Yogaboom Yoga praktiziert. Sogar dann, als ich Yoga noch langweilig fand.

Schließlich zeigt sie mir wie ich einen Chai koche. Ohne viel Getue führt sie mich in die hohe Kunst der Zubereitung ein. Nach einem Monat ziehe ich aus dem Zweitzimmer meiner Freundin aus und in eine neue WG ein. Hier koche ich täglich meinen Chai. Ich liebe mein Zimmer, direkt über der S-Bahn. Ziemlich laut eigentlich dieses Gerumpel, aber es liegt mittendrin im damals noch wilden Teil von Hamburg. Und ich mag meine neue Mitbewohnerin. Ich schreibe meine Examensarbeit fertig und ziehe irgendwann später  – gemeinsam mit meinem Chai – nach Wien.

Bis heute begleitet der Chai mich durch mein Leben. Naja, in den intensiven Babyjahren gab es wenig Zeit, um in Ruhe und mit viel Aufmerksamkeit das indische Heißgetränk für mich zu kochen. Der Chai hat mir sehr gefehlt in dieser Zeit. Inzwischen gibt es wieder nahezu täglich einen. Auch im Alltag ist er immer wieder ein Anker für mich. Eine Oase. Er ist auch Erinnerung an die schönen Studienzeiten mit meiner Freundin. Die Anbindung an Momente in meinem WG-Zimmer über der S-Bahn. Dort trank ich ihn am frühen Morgen nach der Yogapraxis. In der Stille auf meiner Matratze sitzend und mit einem Gefühl von großer Offenheit und Verbindung zu allem um mich herum. Und der Chai verbindet mich auch heute mit den Menschen, für die ich bereits einen Chai gekocht habe. Das waren ganz unterschiedliche Menschen. Auch jene, die Yogakram und Räucherstäbchen eher anstrengend finden. Den Chai aber haben sie geliebt.

Was ist Dein persönlicher Chai? Das kann jedes Getränk sein. Ein Kakao, der an frühere Zeiten erinnert. Ein Glas Rotwein am Abend. Das Bier. Ein Glas Milch. Ein besonderer Tee. Ein frisch gepresster Orangensaft. Das, was Dein spezielles Getränk ausmacht, ist die Zeit, die Du mit ihm verbracht hast. Die Lebensjahre, die emotionale Verbindung. Und die Aufmerksamkeit, die Du Deinem Getränk immer wieder schenkst.

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