Anfang Mai war ich in Hamburg auf der Trauerfeier meiner Patentante. Es war ein sehr berührendes Ereignis. Anschließend gab es in einem Restaurant in der Nähe, zusammen mit ihrer Familie und früheren Arbeitskolleginnen, ein gemeinsames Kaffee/Tee trinken und Kuchen essen. In einer sehr warmen, herzlichen Atmosphäre. Nach einem langen Nachmittag verabschiedete ich mich und kehrte noch einmal zurück an das frische Grab meiner Patentante.

Die Sonne schien, der Wind wehte und die Vögel zwitscherten. Was für eine Idylle. Auf dem Friedhof! Ich stand an ihrem Grab, das mit wunderschönen, roten und weißen Rosen überhäuft war. Ich stand einfach da. Irgendwann sang ich ein Lied, das ich bereits vor vielen Jahren für Alice geschrieben hatte. Sie hat es nie gehört. Niemand kennt es bisher. Es war schön am Grab zu singen. Beruhigend.

Das Grab gegenüber von ihr ist vermutlich von einem relativ jung verstorbenen Musiker. Eine E-Gitarre schmückt den Grabstein. Ich freute mich für Alice über diese gute Gesellschaft. Es würde ihr gefallen.

Das Weggehen fiel mir schwer. Sie war noch so nah. Und irgendwie schien die Zeit, hier an diesem Platz, still zu stehen. Das Wesentliche zeigte sich, war für mich greif- und fühlbar. Ich atmete ein, ich atmete aus. Ich war einfach da. Mit allem drum und dran.

Irgendwann ging ich doch. Ich wusste, ich würde wiederkommen. Wenn die Blumen verblüht und beseitigt wären, wenn ein Grabstein mit ihrem Namen und ihrem Geburts- und Todestag auf dem Grab stände. Ich wanderte eine knappe Stunde über den Friedhof zurück zu meinem Hotel. Der Hamburger Friedhof ist riesig. Er ist der größte Friedhof Europas und ja, unglaublich, der viertgrößte Friedhof von der ganzen Welt! Autos und Radfahrer fahren hindurch und auch eine Buslinie führt über den gesamten Friedhof. Viel Grün breitet sich hier aus: Bäume, Büsche, kleine Waldstücke, Wiesen und endlos viele, kleine Blumen.

An unzähligen Grabstätten wanderte ich vorbei. Ich sah den Grabschmuck, die gepflanzten Blumen, ein Holzkreuz, Steine – und immer zwei Daten. Geburtstag und Todestag der Verstorbenen. Zwei Daten sind das, was am Ende des Lebens bleibt. Das, was sicher ist. Wir kommen irgendwann in die Welt, wir gehen irgendwann aus dieser Welt. Doch was ist dazwischen? Was ist wesentlich? Und was erstrebenswert? Das sind höchst persönliche Fragen, verbunden mit höchst persönlichen Antworten. In mir ein großes Fragezeichen. Für Stunden befinde ich mich an diesem Tag, Anfang Mai, in einer Welt, wo Leben und Tod direkt nebeneinander stehen.

Ob ich tiefere Erkenntnisse hatte? Meine persönliche Antwort auf all diese Fragen fand?

Ich weiß es nicht.

Aber, wenn ich jetzt hier in Wien die Augen schließe, dann bin ich wieder da. Auf der Trauerfeier, am Grab meiner Patentante, auf dem großräumigen, grün bewachsenen Friedhof. Und ich kann nochmal spüren, wie die Welt still steht, wie sich alles auf einen einzigen Punkt zusammenzieht. Ich kann fühlen, wie einfach alles gut ist. Am Ende. Und jetzt.

Doch ich kann in dieser Zwischen-den-Gräbern-Atmosphäre nicht verweilen: Ich putze dem Kleinsten die Zähne, ich bestelle eine Biokiste, ich kümmere mich um den nächsten Auftrag für mein Business. Ich lerne neue, schöne Menschen kennen, ich dusche, ich esse, ich gehe auf Toilette, ich schlafe. Das Leben geht weiter.

Und das ist auch gut so.